Vizepräsident Wolfgang Thierse:
Kerstin Müller heißt es nun für die Fraktion Allianz 90 / Die Grünen.
Kerstin Müller (Köln) (Allianz 90 / Die Grünen):
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen! Also, bei aller Liebe, Gregor Gysi
(Philipp Mißfelder [CDU / CSU]: Das glaube ich nicht! – Fröhlichkeit)
– Nun, manchmal kannst du mit ihm Kaffee trinken.
Nur ein kleiner Hinweis, ein Satz: Die Türkei ist ein NATO-Partner, sie ist Teil des NATO-Bündnisses, sie ist der NATO-Vertrag. Angesichts der Forderung der Bundesregierung, von einer Invasion der Deutschen in den Nahen Osten zu sprechen, ist das ein so abstruser Populismus, dass man in dieser Rede nicht weiter darauf eingehen muss.
(Beifall von Allianz 90 / Die Grünen, von CDU / CSU, SPD und FDP)
Zum Thema. Nach 21 Monaten blutigem Bürgerkrieg – hier wurde wenig gesagt – gibt es immer mehr Anzeichen dafür, dass das Regime auf dem Weg nach Assad ist.
Ich begrüße es sehr, dass die Bundesregierung und mehr als 100 weitere Staaten die National Coalition endlich als legitimen Vertreter des syrischen Volkes anerkannt haben. Das war überfällig, und das ist sehr wichtig für die Menschen in Syrien.
Die Tatsache, dass die Zahl der Flüchtlinge am Rande einer dramatischen Zunahme steht – mit täglich mehr als 3.000 an den Grenzen – deutet jedoch darauf hin, dass das Regime jetzt noch brutaler mit seinem eigenen Volk, mit Brandbomben und mit Scud-Raketen umgeht. Mehr als eine halbe Million Syrer sind in die Nachbarländer geflohen, allein die Türkei erhielt 136.000. Bis zu 2 Millionen Flüchtlinge wandern innerhalb Syriens umher.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, im Zusammenhang mit der Stationierung der patriotischen Systeme wurde viel von Solidarität mit dem NATO-Partner Türkei gesprochen. Ich möchte hier ganz klar sagen: Solidarität bedeutet für mich auch, den betroffenen Nachbarländern bei der Bewältigung dieses Flüchtlingsdramas zu helfen, nicht nur mit humanitärer Hilfe, sondern insbesondere mit der unbürokratischen Aufnahme von Flüchtlingen. Selbst der Vorsitzende des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, Ihr Kollege Polenz, hat es gesagt: Zumindest die Flüchtlinge, die von ihren hier lebenden Verwandten eingeladen werden, sollen nach Deutschland kommen!
(Beifall von Mitgliedern der Allianz 90 / Die Grünen und die SPD)
Das wäre ein wichtiges politisches Signal und ein wichtiges Signal der Menschlichkeit, vor allem jetzt vor Weihnachten.
(Beifall von Allianz 90 / Die Grünen und Mitglieder der SPD)
Ich habe der Fraktion der Grünen von Anfang an klargestellt, dass wir, wenn sich der Partner Türkei an seinen Grenzen durch den blutigen Bürgerkrieg bedroht fühlt und sich daher an die NATO wendet, einen solchen Antrag ernsthaft prüfen werden; denn genau das ist der Zweck des NATO-Bündnisses.
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Frage von Frau Hänsel?
(Schreit: nein!)
Kerstin Müller (Köln) (Allianz 90 / Die Grünen):
Das glaube ich nicht. – Meine Damen und Herren von der Linken, mit all dem Misstrauen, das man gegenüber den anderen Interessen von Erdoğan haben kann und muss, sage ich: Dass die Türkei nach mehrmaligem Beschuss besorgt ist, in Zukunft von syrischen Scud-Raketen bedroht zu werden, kann man nicht ernsthaft leugnen.
(Beifall von Mitgliedern der Allianz 90 / Die Grünen und die SPD)
Es ist wahr, dass nach Ansicht des syrischen Regimes viel Rationalität nicht existiert; denn solange dieser Bürgerkrieg nicht internationalisiert ist, kann der Diktator Assad Menschen töten, sie foltern, vertreiben, mit Raketen bombardieren. Aber welche Rationalität hat ein zerfallendes Regime? Sind Sie bereit zu wissen, welche Teile des Regimes morgen Raketen abfeuern?
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das tust du auch nicht!)
Und das Assad-Regime hat chemische Waffen. Das hat das Regime nicht geleugnet, sondern im Gegenteil zugegeben. Der Einsatz dieser Waffen ist ein Szenario, in dem die Patriotensysteme keine angemessene Antwort wären. Selbst der russische Protest gegen die Stationierung der patriotischen Systeme war seltsam schnell.
Also: Der NATO-Partner Türkei sieht sich in seiner Sicherheit subjektiv bedroht. Das allein reicht für eine Anwendung von Art. 4 NATO-Vertrag.
(Beifall von Mitgliedern der Allianz 90 / Die Grünen)
Dennoch ist es uns wichtig, dass wir mit der Stationierung von Patriotensystemen nicht in den Bürgerkrieg verwickelt sind. Deshalb begrüßen wir es sehr, dass das Mandat jetzt klar zum Ausdruck bringt, dass die Patrioten nicht dazu bestimmt sind, eine Flugverbotszone einzurichten. Sie sind so positioniert, dass sie den syrischen Luftraum nicht stören. Damit hat die Bundesregierung unsere Bedenken ausgeräumt, ebenso wie mit der klaren Ankündigung in den Ausschüssen: Sollte sich etwas ändern, wird sich der Bundestag erneut mit dieser Angelegenheit befassen.
Meine Fraktion wird aus diesen Gründen mit großer Mehrheit für das Mandat stimmen.
(Rufe aus der LINKS)
Aber ich möchte auch ganz klar sagen: Wir wollen, dass die Türkei einbezogen wird. Die NATO bedeutet auch Verantwortung auf beiden Seiten. Ich bevorzuge es, wenn wir die Türkei frühzeitig in den Rahmen der NATO einbeziehen und damit die klare Botschaft vermitteln: Keine Einmannbedienung!